Guten Tag Frau und Herr Hintermann
mit Begeisterung verfolge ich Ihren Blog. in meiner Familie ist eine Konstellation die mir Rätsel aufwirft. Es liegt mir nichts daran, öffentlich meine Familie zu stellen, somit scheiterte auch bisher jeder Versuch zur Kontaktaufnahme. Aber vielleicht können Sie mir wertvolle Hinweise geben zu dem was mich interssiert und beschäftigt:
Mütterliche Seite meiner Familie haben von meiner Ur-Oma, Oma, nebst deren 2 Schwestern und meiner Mutter „das grosse Vergessen“, sprich Demenz. Die Befürchtung es ereilt mich als Tochter auch, liegt da nahe und ich möchte gerne Wissen, welchen Ansatz das Thema Demenz hier generell haben kann?
Andererseits schiebt sich konsequent das Thema Alkohol und Krebs bei der Familie meines Vater in unsere Familie. Grossvater väterlicherer Seits, eigene Vater und meine beiden Brüder haben Alkohol und Krebs als die begleitende Lebensgeschichte. Gewalt ist mütterlichererseits und väterlicherseits für mich spürbar nie ein Thema in der Familie gewesen.
Gibt es hier ein Muster? Würde mich freuen, von Ihnen dazu zu erfahren oder im Blogg darüber zu lesen….
Herbstliche Grüsse
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Liebe….
Sich mit Familiendynamiken auseinanderzusetzen impliziert nicht den Besuch eines öffentlichen Familienstellen-Seminars. Da gibt es auch andere Formen, zum Beispiel eine Einzelaufstellung im Rahmen einer (oder mehrerer) Coachingsitzung(en). Dies nur zur verbreiteten Auffassung, dass Familienstellen nur in der Gruppe stattfindet.
Sie haben sich mit Ihren Wurzeln auseinandergesetzt, das ist gut. Denn von da kommen wir alle, die Wurzeln sind von existenzieller Bedeutung, das meine ich wörtlich. Ohne Ihre Herkunftsfamilie hätten Sie keine biologische Existenz, es würde Sie nicht geben.
Es ist mir an diesem Punkt wichtig darauf hinzuweisen, dass aus der Familie nicht nur Belastungen kommen, sondern auch Fähigkeiten, weiterbringende, gesellschaftlich positiv gewertete Charaktereigenschaften und Persönlichkeitsanteile. Dies einfach der Komplettheit halber, denn das wird oft ausgeblendet. Das Schwierige, Schlechte, Unbewältigbare hat die grössere Anziehungskraft als das Gute und Untestützende.
Sie zählen einige Symptome, Dynamiken und Schicksale in der Frauen- und der Männerlinie in Ihrem Herkunftssystem auf, welche durchaus auf mehrere Muster schliessen lassen können. So gesehen, haben Sie diesen Teil der Frage bereits selbst beantwortet.
Aus systemischer Sicht wohl richtig deuten Sie die Demenz als „das grosse Vergessen“. Da wäre es interessant der Frage nachzugehen: Was hat es denn gegeben/was hat sich ereignet, dass man nur noch mit Vergessen/Ausblenden reagieren kann? Was gibt es zu Vergessendes? In diesem Sinne ist die Demenz als eine Art Ressource zu sehen, welche davor bewahrt, etwas wahrzunehmen was „nicht aushaltbar“ ist.
Auf das Alkohol- und Krebsmuster möchte ich hier nicht eingehen, sondern mich auf Ihre Situation fokussieren. Ein ungelöster Punkt in der Lehre über die systemischen Familiendynamiken ist jener, dass der genaue „Mechanismus“ einer Verstrickung – damit meine ich, wer genau im System eine Last übernimmt – nicht erklärbar ist. Es gibt Trends aus der Vielzahl der Beobachtungen und es gibt Systemgrenzen, die bekannt sind, aber das genaue Regelwerk dahinter bleibt im Moment noch verschlossen. Deshalb kann Ihnen niemand „einfach so“ beantworten, ob Sie von den erwähnten Mustern im System „betroffen“ sind oder nicht.
Was ich Ihrem Text entnehme, ist jedoch Ihre „Befürchtung“ davor, dass Sie als Tochter, Nichte, Enkelin und Urenkelin dieses Vergessen in der Frauenlinie ebenfalls mittragen. Das kann ich gut nachvollziehen und es ist mit dem Verstand durchaus denkbar, dass es so ist. Diese „Befürchtung“ (also die persönliche Furcht, dass Sie dieses Schicksal auch ereilt) ist ja Ihre primäre und konkret wahrnehmbare Betroffenheit. Hier würde ich den ersten Blick legen, denn das steht ja für Sie am Nächsten. Noch etwas: Die „Befürchtung“ schafft Distanz zu denen, die „das“ haben. Das ist ein Teil Ihrer Wurzeln. Hier wäre mein zweiter Blick.
Ich danke Ihnen für Ihre Geduld und wünsche Ihnen einen guten Weg.
Herzlich, André Hintermann